Die Bibel verstehen – der Schrift vertrauen – mit Christus leben
Im Jahr 1961 hat der Gnadauer Verband eine Erklärung veröffentlicht, in der die Stellung der Gemeinschaftsbewegung zur Heiligen Schrift zusammengefasst ist. Damals wurde dieser Text formuliert angesichts der großen Verunsicherungen, die die Auseinandersetzung um die Entmythologisierung des Neuen Testaments in vielen Gemeinden auslöste. Dem Gnadauer Verband war es in diesem Konflikt wichtig, eindeutige Orientierung zu vermitteln und dabei nicht die Abgrenzung, sondern die eigene Position zu betonen: Das Bekenntnis zu Jesus Christus als Mitte der Schrift, das davon nicht zu trennende Festhalten an der Vertrauenswürdigkeit der von Gott inspirierten Heiligen Schrift sowie die Angewiesenheit auf den Heiligen Geist in aller Schriftauslegung und Verkündigung. 1981 wurde dieser Text noch einmal in leicht überarbeiteter Form veröffentlicht.
Als Kollegium der Evangelischen Hochschule TABOR sehen wir in dieser kurzen Erklärung bis heute ein wegweisendes Wort. Weil wir die hier gegebene Orientierung als verbindlich und inspirierend für uns und unsere Forschung und Lehre halten, wollen wir zum 60. bzw. 40. Jubiläum Anliegen dieser Stellungnahme entlang der fünf Artikel für die Gegenwart mit eigenen Worten formulieren. Deshalb schließt das Gnadauer Wort unsere Stellungnahme ab.

So soll das Wort, das aus meinem Mund geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. (Jesaja 55,11)

1. Jesus Christus ist in unüberbietbarer und vollkommener Weise das Wort, durch das Gott geredet hat (Hebr 1,1-3)
Gemäß dem Alten Testament hat Gott durch sein Schöpfungswort und durch das prophetische Wort gesprochen und sich seinem Volk Israel zu erkennen gegeben. Diese Vielfalt von Gottes Reden findet ihren Höhepunkt und ihre Erfüllung in Gottes Selbstoffenbarung in Jesus Christus. Dieses heilsgeschichtliche Handeln Gottes ereignete sich darin, dass Gottes Sohn sich selbst erniedrigte, Mensch geworden ist (Phil 2,6-11) und als wahrer Mensch auf dieser Erde lebte. Jesus starb für uns am Kreuz und ist von den Toten auferstanden (1Kor 15,3f). Er wurde erhöht und von Gott als messianischer Weltherrscher eingesetzt. Er wird wiederkommen und diese Welt richten und vollenden. Dieser gekreuzigte, auferstandene und erhöhte Christus ist als die „Mitte der Schrift“ zu verstehen. Von daher sind die biblischen Texte auf die Offenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus zu beziehen und von dieser her einzuordnen und zu verstehen. Gott erweist mit seinem Reden in Christus seine Liebe und Zuverlässigkeit und zielt auf Beziehung sowie die Antwort des Menschen (2Kor 1,20). Dieses Reden Gottes in Jesus Christus ist der zentrale und unverzichtbare Inhalt der Verkündigung des Evangeliums als Einladung zum Glauben (1Kor 2,2).

2. Denn alle Schrift, von Gott eingegeben… (2Tim 3,16): Gottes Wort im Menschenwort
Dass die Heilige Schrift von Jesus Christus als ihrem Zentrum her und auf ihn hin zu verstehen ist, bedeutet nicht, dass innerhalb der Heiligen Schrift eine beliebige Auswahl getroffen werden kann, was bedeutsam ist und was nicht. Wir vertrauen darauf, dass auch diejenigen biblischen Schriften, die derzeit oder in den Augen einiger nur „am Rand“ stehen, einen unentbehrlichen Beitrag zum Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift leisten.
Wie Gott in Jesus Knechtsgestalt angenommen und Mensch geworden ist, so hat er sich dazu herabgelassen, durch den Heiligen Geist Menschen zu erwählen und zu befähigen, sein Wort zu sagen. Gottes Geist war beim Entstehungsprozess am Werk („gewirkt und durchweht“), Gottes Geist wirkt beim Lesen, Auslegen und Verkündigen der Schrift; er hat sich an das Wort der Schrift gebunden. Umgekehrt ist die Schrift der Maßstab zur Beurteilung dessen, was als Wirken des Geistes beansprucht wird.
Gottes Größe und Demut ist es, dass er sich erniedrigt, in Menschenworten zu uns zu reden. So ist es von Gott gewollt. „Denn nicht das ist Gottes Herrlichkeit, dass er vor uns den Beweis führt, dass er ein fehlloses Buch verfassen kann, sondern das, dass er Menschen so mit sich verbindet, dass sie als Menschen sein Wort sagen […] Nicht die Schrift, sondern der die Schrift gebende und durch sie uns berufende Gott ist unfehlbar. […] Darin besteht die Fehllosigkeit der Bibel, dass sie uns zu Gott beruft.“ (Adolf Schlatter, Das christliche Dogma, Stuttgart 3 1977, 375f.).
Diesem Handeln Gottes entspricht eine menschliche Haltung der Demut, die die Schrift in ihrer Niedrigkeitsgestalt als „Schatz in irdenen Gefäßen“ (2Kor 4,7), als Gottes Wort im Menschenwort, annimmt, darin Gottes Stimme hört und ihn darüber lobt und preist. Weil Gott vertrauenswürdig und wahrhaftig ist, ist die angemessene menschliche Reaktion darauf Vertrauen und Gehorsam.

3. Gottes Wort kommt nicht leer zurück: „Es wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende“ (Jes 55,11)
Im Hören auf Jesaja 55,11 erkennen wir das Ziel des Wortes Gottes, im Leben der Menschen zur Wirkung zu kommen. Wir halten an der reformatorisch-pietistischen Tradition fest, dass diese Wirkung nicht uns Menschen frei zur Verfügung steht, sondern auf den Heiligen Geist zurückgeht, der weht, wann und wo er will (Joh 3,8). Es ist dem Wirken des Heiligen Geistes zu verdanken, wenn Gott sich in den menschlichen Worten in der Schrift selbst erschließt. Zu allen Zeiten haben Menschen daran Anstoß genommen, dass Gottes wahrhaftiges Wort in diesem schlichten, geschichtlichen Menschenwort ergeht. Zur Wirkung des Wortes Gottes gehört zudem, dass es die Weisheit der Welt ihrer Torheit überführt (Jes 29,14, 1Kor 1,18.25.27). Wir sehen es als eine Aufgabe der Schriftauslegung, dieses spannungsvolle Miteinander von Unverfügbarkeit, geschichtlicher Bedingtheit und ideologiekritischem Potential der Schrift zu wahren.
Durch das Wirken des Heiligen Geistes ist es allen Gläubigen möglich, die biblische Botschaft zu verstehen und Orientierung für alle Fragen des Glaubens und Lebens zu finden. Die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Bibelauslegung können dabei eine wertvolle Hilfe sein. Bei der Anwendung wissenschaftlicher Methoden ist uns wichtig: (1) Als in der Geschichte ergangenes Wort sind für die Auslegung der Bibel verschiedene Wissenschaftsdisziplinen heranzuziehen. In diesen ist immer wieder aufs Neue die angemessene Anwendung der jeweiligen Methoden zu prüfen. (2) Gleichzeitig ist auf die Ausgewogenheit wissenschaftlicher Zugänge zu achten und der Verabsolutierung einzelner Methoden und Zugänge zu widersprechen. Dazu gehört auch die Einsicht in die Unverfügbarkeit der vom Heiligen Geist gewirkten Christuserkenntnis. (3) Es gehört ebenso zum Dienst am Wort, den Charakter und das Recht wissenschaftlichen Arbeitens generell und an der Bibel zu respektieren und zu schützen sowie deren Grenzen zu benennen. (4) Um schließlich die Begrenzungen des (eigenen) Standpunkts der Auslegenden kritisch ins Bewusstsein zu heben, sind die geschichtlichen Voraussetzungen unseres eigenen Denkens aufzuklären.
Das alles muss dem zentralen Ziel dienen, Gottes Wort vor Vereinnahmungen zu schützen und in seiner Fülle und Wahrhaftigkeit ausreden zu lassen.

4. Das Evangelium ist eine Kraft Gottes zur Rettung (Röm 1,16)
Die Wirkung der Heiligen Schrift ist genauso unverfügbar wie ihr Verständnis. Darum ging es auch Martin Luther in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als dem entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der Bibel. Denn die zentrale Offenbarung Gottes ist das Evangelium Gottes (Röm 1,1) bzw. Christi (Gal 1,7). Alle evangelische Schriftauslegung dient dem Verständnis und der Verkündigung des Evangeliums, das der Apostel Paulus als die in uns wirksame Kraft Gottes (Röm 1,16) bezeichnet. Das Evangelium als Wort vom Kreuz (1Kor 1,18) verkündigt Christus als für uns gestorben und auferstanden. Das Evangelium als Heilsbotschaft ergeht als Verheißung und Zuspruch (Gal 3,13-18). Daher verbietet sich jede Vermischung des Evangeliums mit dem gebietenden Reden Gottes. Ebenso wenig darf das Evangelium Gottes seine Gebote verdrängen oder ersetzen. Wie der Glaube in der Liebe wirksam ist (Gal 5,6), so führt die Verkündigung des Evangeliums auch zum gehorsamen Leben im Geist und im Willen Gottes (1Thess 4,1-8).
Gerade weil das lebendige Wort Gottes unverfügbar ist und seine rechte Unterscheidung sich durch keine Methodik sicherstellen lässt, ist alle Theologie angewiesen auf die Gabe des Heiligen Geistes (1Kor 2,4; Gal 3,2). Keine wissenschaftliche oder bibeltreue Hermeneutik als solche kann rechte Christuserkenntnis und Glaubensgewissheit hervorbringen.
Weil uns die Gnade Gottes schon in der Bibel in einer Vielfalt von Formen und Gestalten begegnet, fördern wir alte und neue Weisen, die Bibel zu lesen, zu hören und miteinander zu teilen, um ihre Verheißungen und Weisungen immer neu für die Gegenwart wirksam zu erfahren. Die Verkündigung dieses Evangeliums vom Reich Gottes (Mt 24,14) erweist seine Kraft in Schriftauslegung und theologischer Lehre, im persönlichen Zeugnis in Wort und Tat wie schließlich in der öffentlichen Predigt, in Seelsorge und diakonischer Zuwendung.

5. Berufen zur Verkündigung des Wortes der Versöhnung (2Kor 5,19)
Das Reden Gottes besteht in Vielfalt und zugleich in unaufgebbarer Einheit (Hebr 1,1-3). Die Einheit ergibt sich daraus, dass der eine Gott redet und wirkt: in Geschichte, Schrift und Verkündigung. Er tut dies aber in vielerlei Situationen und Gestalt. Vielfalt und Einheit dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dies geschieht dort, wo man die „vielfältigen Weisen“ als widersprüchlich gegeneinander oder gegen die Einheit des Kanons in Stellung bringt, genauso wie dort, wo die Einheit alle Differenzierungen, unterschiedlichen Perspektiven, kontextuellen Bezüge und situativen Betonungen einebnet.
Gottes Reden in Geschichte, Schrift und Verkündigung bleibt nicht ohne Wirkung (Jes 55,11) und hat das Ziel, dass Menschen ihn beim Wort nehmen und seine Zusage Glauben findet. Dabei ist nicht nur der Glaube des Einzelnen „Geschöpf des Wortes Gottes“, auch die Gemeinschaft der Kirche verdankt sich dem wirkmächtigen Reden Gottes.
Durch die Schrift verbindet uns Gott mit sich, nimmt uns hinein in sein Wirken und beruft uns zur Verkündigung des „Wortes der Versöhnung“ und zum Dienst der Liebe. Gottes gegenwärtiges Handeln stärkt in uns das Vertrauen und hält die Hoffnung wach, dass Gott sein Werk voranbringen und vollenden wird.
Es greift daher zu kurz, in der Schrift nur eine Sammlung von Informationen über Gott zu sehen. Vielmehr ist sie als Zeugnis seines Redens und Handelns in der Geschichte dasjenige Mittel, durch das er uns in seine Gemeinschaft nimmt und umgestaltet zu den Menschen, die er als „Botschafter an Christi statt“ in diese Welt sendet (2Kor 5,20).
Unsere Aufgabe ist daher ein immer wieder neues Hören. Dazu gehört, dass wir die Schrift ihr eigenes Wort sagen lassen und bereit sind, uns von ihr korrigieren zu lassen. Angesichts der Gefahr, in der Schrift nur die eigene Sicherheit und Bestätigung zu suchen, brauchen wir die Ermutigung und Ermahnung im gemeinsamen Lesen und Leben in der Gemeinde.

Unsere Stellung zur Heiligen Schrift (beschlossen von der Mitgliederversammlung des Gnadauer Verbandes 1961 und 1981)
1. Wir glauben und bekennen, dass Jesus Christus in vollkommener und umfassender Weise Gottes Wort ist.
In Jesus Christus, dem menschgewordenen, gekreuzigten, auferstandenen, erhöhten und wiederkommenden Sohn Gottes, offenbart sich Gott in Gericht und Gnade. In ihm erkennen wir Gott als den Herrn und Richter der Welt und als den Schöpfer und Erretter der Menschen. Im Glauben an Jesus Christus öffnet sich uns die Heilige Schrift als das vom Heiligen Geist gewirkte Zeugnis des Handelns und Redens Gottes in der alt- und neutestamentlichen Heilsgeschichte.
2. Wir glauben und bekennen, dass die ganze Bibel Gottes Wort ist, gewirkt und durchweht vom Heiligen Geist und darum unbedingt wahrhaftig und vertrauenswürdig.
Wenn uns Gott diesen Schatz auch in „irdenen Gefäßen“ gegeben hat, weil es ihm gefiel, durch Menschen in menschliche Sprache und Geschichte hinein zu uns zu reden, so achten und verkündigen wir das Wort der Schrift doch in Ehrfurcht und Dankbarkeit als Gottes untrügliche Wahrheit und Weisung für Glauben und Leben.
Diesem Wort, das uns des Heils froh und gewiss macht, wissen wir uns unbedingt zu Glauben und Gehorsam verpflichtet.
3. Wir glauben und bekennen, dass das gottgewollte Verständnis der Schrift uns nur durch den Heiligen Geist geschenkt wird.
Menschliche Vernunft kann die göttliche Offenbarung nicht erfassen; nur dem geistgewirkten Glauben öffnet sich das göttliche Geheimnis der Schrift. Darum sagen wir Nein zu jeder Bibelkritik, welche die vernunftgemäße Erkenntnis über die Wahrheit der Schrift stellt und Teile der Schrift umdeutet oder sie als unglaubwürdige Mythen und Märchen abtut. Allem nur vernunftgemäßen Verstehen und aller zersetzenden Kritik gegenüber setzt sich die Bibel selbst durch als das Wort göttlicher Wahrheit. Wir brauchen die Schrift nicht zu verteidigen, aber wir wissen uns verpflichtet, in anhaltendem Gebet und in gewissenhafter theologischer Arbeit zu helfen, Gottes Wort immer besser und tiefer kennenzulernen und so zu verstehen, wie es dem Willen Gottes entspricht.
4. Wir glauben und bekennen, dass Gott auch heute durch die Verkündigung seines Wortes sein rettendes und heiligendes Werk treibt an seiner Gemeinde und an allen Menschen.
Durch seinen Heiligen Geist macht er sein Wort lebendig an den Herzen der Hörer, dass Jesus Christus verherrlicht und in seinem Licht Sünde und Gnade recht erkannt wird. Gerade indem uns das verkündigte Wort im Gewissen straft, richtet und aufrichtet, erweist es seine Kraft als Wort Gottes. So wird durch die geisterfüllte Predigt Buße, Glaube und Gehorsam gewirkt und die Gemeinde Jesu gesammelt, gestärkt und zum Dienst zugerüstet. Es geht uns darum, dass Zeugnis, Verkündigung und Seelsorge sich vollmächtig erweisen in der Kraft des Geistes und in gehorsamer Bindung an das Wort der ganzen Heiligen Schrift, das uns in Gesetz und Evangelium begegnet.“
5. Wir glauben und bekennen, daß das in der Heilsgeschichte geschehene, das im Zeugnis der Bibel geschriebene und das in vollmächtiger Evangeliumspredigt verkündigte Wort Gottes eine gottgewollte, untrennbare Einheit bildet.
Wenn wir vom »Wort Gottes« reden, meinen wir letztlich immer diese Zusammengehörigkeit und Einheit, auch wenn wir nur von dem geschehenen oder von dem geschriebenen oder von dem gepredigten Wort sprechen. Die Bibel führt uns zum Glauben an Jesus Christus, und der Glaube an Jesus Christus führt wiederum zu tieferer Erkenntnis der Wahrheit Gottes in der Bibel.
In diesem lebendigen Kreislauf stehen Leben und Kraft, Botschaft und Hoffnung der Gemeinde. Durch die Verkündigung und die Bekräftigung seines Wortes regiert Jesus seine Gemeinde und durch ehrfürchtiges Hören, vertrauendes Annehmen, gehorsames Tun und tapferes Bezeugen des Wortes gibt die Gemeinde ihrem Herrn die Ehre, die ihm gebührt.

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